Wie es dazu kam

Ein Traum wird war. Jahre, nachdem ich zufällig auf der Fahrt in den Urlaub mitten durch den Startbereich der Ètape du Tour fuhr stehe ich endlich selbst am Start. Bei dieser Streckenführung war es im Oktober 2021 ein No-Brainer. Gebannt saßen wir 30 Minuten vor Öffnung der Anmeldung vor dem Rechner und aktualisierten sekündlich das Browserfenster. Es ging los, wir sind dabei.

Die Strecke

Lautaret, Galibier, Télègraphe, Croix de Fer, Alpe d'Huez, eine Woche nach dem Marmotte Granfondo Alpes sind wir nun auf diesen legendären Pässen unterwegs, auf denen sich 4 Tage später Pogacar und Vingegard die Kante geben. Und die Straßen: Gesperrt. 12.000 Radfahrer begleitet von Supportfahrzeugen und bejubelt von den schon anwesenden Tour Fans. 165 km, davon ca. 35km flach. 4.300 Höhenmeter.

Der Start

Aus drei Richtungen reisen wir an. Thorben und Thomas direkt aus Deutschland, André schon ein paar Tage im Serre-Chevalier und Sascha und ich aus Risoul. Morgens um 7 treffen wir uns alle in der Startaufstellung. Block 10. Spannung und Aufregung steigen.

Der Lautaret

Im Gegensatz zum Marmotte hat die Étape keinen flachen Start. Die erste Rampe befindet sich noch im neutralisierten Bereich in Briancon und direkt hinter der Startlinie geht es schon ans Eingemachte. Der Anstieg zum Col du Lautaret, mit über 2000m Passhöhe das Hors d'Ouvre des Galibier. Immer steiler und steiler windet sich der Pass hinauf, bis wir den Abzweig zum diesjährigen Dach der Tour erreichen. Auf geht es zum Monument Henry Desgranges.

Col du Galibier

Aus den Erfahrungen beim Marmotte habe ich gelernt. Früher Essen, mehr essen, mehr Zuckerwasser trinken… Die ersten zwei Riegel waren bis zum Lautaret fällig. Nach dem Galibier erwarten und 2000m Abfahrt. Genug Zeit zum Verdauen also. Das Tempoo ist mäßig. Wir bleiben alle bis zum Col zusammen. Fahrradfahrer:innen so weit das Aufe reicht. Es macht unglaublich Spaß. Oben auf dem Col angenehme 18°C. Der Tag wird heiß, so viel wissen wir schon.

Die erste Abfahrt

Zum Col de Télégraphe gibt es aus dieser Richtung nur einen kurzen Zwischenanstieg. Die Abfahrt vom Galibier ins Maurienne Tal überwindet fast 2000 Höhenmeter. Die Kehren am Galibier sind schwierig und die Verpflegungsstation in Valloire eine Willkommene Gelegenheit die Konzentration mal kurz auszusetzen. Obst, Zucker, Salz, Wasser. Das Team einsammeln und weiter hinab. Es wird heiß. Aber alle fahren diszipliniert. Trotz der teilweise unübersichtlichen Straßen kommen wir sicher ins Maurienne Tal. Gegenwind. Zum ersten Mal heute heißt es Teamarbeit.

Croix de Fer

Der Pass mit dem Eisenkreuz. Ich kenne ihn nicht, das Höhenprofil flöst Respekt ein. Fast 1600 Meter. Ein steiler Start, mehrere kleine Zwischenabfahrten und die letzten Kilometer haben es in sich. Aber das hatte ich wohl vergessen. Das Rechtsfahrgebot weicht auf. Der Schatten ist links. In der Mittagssonne wird es unerträglich und in den steilen Rampen bemüht der eine oder andere seine kleinste Übersetzung. Wir erreichen die Verpflegungsstation 7 km vor der Passhöhe – die vor den Anstieg hatten wir ausgelassen. Thomas, Sascha und ich fahren zusammen. André haben wir im Anstieg kurz gesehen und Thorben kurz vor seiner ersten(!) Pause eingeholt. Wir stopfen alles was geht in uns hinein, füllen die Flaschen und klettern die letzten Kilometer hin zu einer halsbrecherischen Abfahrt.

Vor dem letzten Akt

Die Abfahrt vom Col de la Croix de Fer mündet schon weit oben in den Col de Glandon. Diese Strecke waren wir schon beim Marmotte vor einer Woche bergauf gefahren und konnten recht dankbar sein einige der Schlüsselstellen zu kennen. Denn obwohl, wie überall sonst auch, die Gefahrenstellen perfekt von Streckenposten mit Pfeife und Fähnchen gesichert waren, musste ich in der ein oder anderen Kehre härter bremsen als ich zunächst wollte. Die Kurven sind eng und hängen teilweise, gefolgt von schier endlosen steilen und geraden Stücken. Richtig interessant sind zudem die zwei Gegenhänge, die die gebeutelten Oberschenkel fast zum Explodieren bringen.

Glücklicherweise hatten wir auf dem Flachstück nach Huez Rückenwind. Arbeiten wollte trotzdem niemand. Kurzerhand führten Sascha und ich die Gruppe bis nach Bourg d'Oisans und holten auch Thomas wieder ein, der uns auf der Abfahrt enteilt war. Die letzten Verpflegungsstation. 32°C im Schatten. Die Alpe wartet.

Immer wieder Krämpfe

Es ist schon etwas verhext. Auch wenn es mir in dieser Woche deutlich besser geht als bei meinem letzten Versuch an diesem Anstieg ist es diesmal einer meiner Begleiter, der von Krämpfen geplagt wird. Anhalten, Pause, trinken, abkühlen, dehnen. Wir entscheiden uns zusammen zu bleiben. Kämpfen uns gemeinsam die 21 Kehren hinauf. Die Holländer jubeln in Kurve 7, die Norweger bei der 5. Zuschauer sorgen mit Wasserflaschen und Schläuchen für Abkühlung. Unter jedem Baum und an jeder Wasserquelle finden sich die Opfer des heutigen Endgegners. Wir beißen und erreichen das Dorf. Die Beine fühlen sich wieder besser an. Wir wissen, wir haben dieses Monster einer Étape bezwungen. Und gefühlt haben wir uns fast so, wie die beiden auf dem Photo.

Zielsprint

Wir kommen um die Ecke auf die 500m lange Zielgrade in Alpe d'Huez und trauen unseren Augen kaum. In Fünferreihen steht die Zuschauer die gesamte Straße entlang und bejubeln frenetisch jeden(!) Radler der vorbei kommt. Impulshaft gehen Thomas, Sascha und ich aus dem Sattel. Ein grandioser Abschluss eines der härtesten Tage meines bisherigen Rennradlerlebens. Tour pur.

Glücklich

Die Leiden sind schnell vergessen und durch die Entscheidung gemeinsam ins Ziel zu fahren fühlte ich mich auch zu diesem Zeitpunkt schon deutlich besser als noch vor einer Woche direkt nach dem Rennen. Ein Rennen mit so unterschiedlichen Start und Zielorten ist aufwändig. Aber für mich hat sich jede Minute Einsatz dafür gelohnt. Glücklicherweise wohnen wir in dieser Woche in Huez. Nur noch 60m Kletterei bis zu unserem Chalet. Prost.

Alte Freunde

"Hallo Tobi", rief jemand in der Startaufstellung. 19 Jahre nach dem Schulabschluss treffe ich also in Frankreich, zwischen 12.000 anderen Radlern einen Schulfreund wieder. Grund genug die Tour ein paar Tage später gemeinsam zu feiern und morgens noch einmal eine Zeit an der Alpe hinzulegen. Ohne die 3000 Höhenmeter vorher in den Beinen geht es auch in etwas über 50 Minuten. Etwas langsamer als die Profis es am selben Nachmittag – wohlgemerkt nach der ganzen Etappe – widerholen werden…

Nachtrag

Die Tour hat sich nicht in Huez entschieden. Schon einen Tag vorher auf der Etappe über den Galibier und hinauf zum Col du Granon konnte Jonas Vingegard die entscheidende Attacke setzen. Grund genug auch dort einmal hinauf zu fahren. Anspruchsvoll und wenn man sich selbst die oft und lang zweistellig ansteigenden Rampen hinaufgekämpft hat, steigt einmal mehr der Respekt für jene, die sich drei Wochen lang jeden Tag diesen Strapazen aussetzen, die für uns nur ein großes Abenteuer sind.